Soziokulturelle Evolution

Soziokulturelle Evolution (von lateinisch evolvere „entwickeln“) bezeichnet zum einen die langfristige, schrittweise Entwicklung aller kulturellen und sozialen Äußerungen menschlicher Gesellschaften im Laufe der Menschheitsgeschichte. Zum anderen ist es ein Oberbegriff für die zugehörigen Theorien.

Die drei grundlegenden Mechanismen der biologischen EvolutionVariation, Selektion und Reproduktion[1] –, die eine dauerhafte Anpassung und weitestgehende Besiedlung aller Umwelten durch Lebewesen ermöglichen, sind in abgewandelter Form auch in der soziokulturellen Evolution des Menschen zu finden. Nach dem herrschenden – jedoch nach wie vor umstrittenen – physikalistischen Paradigma, gingen aus der biologischen Evolution die emergenten (nicht aus den Vorbedingungen ableitbaren) mentalen Eigenschaften hervor, die vor allem in der Philosophie des Geistes untersucht werden.[2] Zentral ist hier die Entstehung der menschlichen Sprache: die Möglichkeit, die Welt in Bezeichnungen und Begriffen abzubilden. Wie der genetische Code kann sie Informationen speichern und vervielfältigen: Auf diese Weise bleiben kulturelle Eigenschaften in den menschlichen Populationen über Generationen erhalten. Sie waren aber gleichsam auch erheblich wandelbarer, denn die Sprache ist als Informationsträger ungleich schneller als biochemische Prozesse. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen lernen Menschen nicht primär über die individuelle Erfahrung ihrer Umwelt, sondern vor allem durch Austausch mit anderen Menschen. Dabei stehen nicht mehr nur reale Objekte, sondern Absichten, Meinungen, Bewertungen und Deutungen im Vordergrund. Daher gehören die „Ergebnisse“ dieser evolutionären Entwicklung nicht mehr zur biologischen, sondern zur kulturellen Vielfalt der Symbole, Ideen, Theorien und Produkte.[3] Nach den Erkenntnissen der evolutionären Psychologie führte dieser Unterschied dazu, dass sich das biologische Verhaltensrepertoire seit der Steinzeit kaum verändert hat, obwohl die heutige Lebensweise andere Anforderungen stellt.[2]

Die Theorien zur soziokulturellen Evolution bieten zwar Entwicklungsmodelle zum Verständnis der Beziehung zwischen Technik, sozialer Struktur und den Werten einer Gesellschaft sowie deren Veränderungen im Laufe der Zeit, aber sie unterscheiden sich bei der Beschreibung spezieller Mechanismen der Variation und des sozialen und kulturellen Wandels.

Die meisten Ansätze im 19. Jahrhundert und einige im 20. Jahrhundert verfolgten das Ziel, ein Modell für die Evolution der Menschheit als Ganzes zu bieten, und argumentierten, dass verschiedene Gesellschaften sich auf unterschiedlichen Stufen der sozialen Entwicklung befinden. Viele jüngere Theorien konzentrieren sich auf die Veränderungen einzelner Gesellschaften und lehnen die Vorstellung einer zielgerichteten Änderung oder eines sozialen Fortschritts ab. Die meisten Archäologen und Ethnologen arbeiten im Rahmen solcher moderner Theorien bzw. disziplinärer Ansätze. Dazu gehören Neoevolutionismus, Soziobiologie, Modernisierungstheorien und Theorien der postindustriellen Gesellschaft.

  1. Gerhard Schurz: Evolution in Natur und Kultur. Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie. Spektrum, Heidelberg 2011, doi:10.1007/978-3-8274-2666-6_1, ISBN 978-3-8274-2665-9, S. 131.
  2. a b Philipp Sarasin, Marianne Sommer (Hrsg.): Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2010, ISBN 978-3-476-02274-5, S. 282–283, 293 (Physikalismus), 297 (Evolutionäre Psychologie).
  3. Philipp Sarasin, Marianne Sommer (Hrsg.): Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2010, ISBN 978-3-476-02274-5, S. 39–41.

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